Mai 17, 2024





      

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Die Welt der Milli Görüs



Türkische Islamisten gewinnen in Deutschland an Einfluss
Berliner Zeitung 16.12.1996 [1]

Autoren: Frank Nordhausen und Ahmet Senyurt

Ein Insider erhebt schwere Vorwürfe gegen die mächtigen Vereine

Wie eine Festung liegt das Gelände im Kölner Stadtteil Nippes. Mannshohe Mauern, Spiegel, ein Wachtposten. Mauern, die schützen und abschotten. Eine fahrbare Stahltür ist der einzige Zugang. Sicherheit auch im Innern des Kölner Zentrums: Erst eine Chipkarte öffnet die Tür zum Büro des 30jährigen Mehmet Sabri Erbakan. Er ist der Neffe des türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan und "Generalsekretär" von Milli Görüs ("Nationale Sichtweise"), dem größten Verein türkischer Fundamentalisten in der Bundesrepublik.

Der Ableger der am Bosporus regierenden Refah-Partei (Wohlfahrtspartei) wird seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet und als "islamisch-extremistisch" eingestuft. Für den Essener Türkei-Experten Faruk Sen ist Milli Görüs die "gefährlichste und mächtigste religiös-islamistische Bewegung in Deutschland".

Machtbewusster Sekretär Mehmet Erbakan ist in Köln aufgewachsen. Er ist ein selbstzufriedener Mann mit sanfter Stimme, der sich seiner Macht bewusst ist. Den Verfassungsschutzbericht über seine Organisation nennt er "eine Posse". Milli Görüs sei absolut staatstragend und betreue türkische Landsleute durch Korankurse, Gottesdienste, Jugend-, Frauen- und Studentenarbeit." Unser Schwerpunkt", sagt Erbakan, "ist die religiöse Organisation." Für Ismael Kosan, türkischstämmiger Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, sind das "Nebelkerzen".

Doch der Nebel lichtet sich: Erstmals redet jetzt ein Insider über interne Vorgänge bei Milli Görüs. Ali Mohammad (Name geändert), ein unzufriedener Mitarbeiter aus der Milli-Görüs-Zentrale, erklärt gegenüber der Berliner Zeitung: "Das ist eine Mafia. Nach meiner Meinung geht es nicht um den Islam, sondern nur darum, Einfluss zu gewinnen und sich zu bereichern." Ali Mohammad urteilt über die Führung von Milli Görüs. Der Kölner Ausländerbeauftragte Friedemann Schleicher sagt über die Gläubigen, die sich in ganz Deutschland von Milli Görüs angezogen fühlen: "Die meisten Anhänger des Vereins haben mit der Milli-Görüs-Führung wenig zu tun und sind nicht radikal, sondern wollen nur ihre religiösen Bedürfnisse befriedigen." Freitagsgebet in der Mevlana-Moschee am Kottbusser Tor in Berlin. Hunderte von Gläubigen haben sich in dem Betonbau am "Neuen Kreuzberger Zentrum" auf grünem Teppich niedergelassen, viele Männer mit Bärten und weißer Kopfbedeckung. Doch bevor der Ruf "Allah'u akbar" ertönt, hält der Hodscha eine lange politische Predigt. Er redet über die Juden, die CIA, die verderbte westliche Welt. Erstaunlich viele Jugendliche sind in das Berliner Gebetshaus gekommen. Das ist kein Zufall. Der Bielefelder Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer stellte letzte Woche in Berlin eine repräsentative Studie aus Nordrhein-Westfalen vor, wonach sich 33 Prozent der jungen Türken politisch in Richtung Milli Görüs orientieren. Je stärker die erlebte soziale Ausgrenzung und je größer die Suche nach Sicherheit, desto eher gehen die Jugendlichen offenbar auf den nationalistischen Islam-Trip. Heitmeyer: "Für rund 68 Prozent der Befragten ist eine starke türkische Nation wichtiger als die Demokratie." Mehmet Erbakan sagt, dass sich "35 bis 50 Prozent" der türkischen Jugendlichen zu Milli Görüs hingezogen fühlten. Man versuche, ihnen Arbeitsplätze zu besorgen und einen "geistigen Halt" zu geben. Bei den Fundamentalisten finden sie ein Freizeitprogramm vom Computer- und Karate- bis zum Nähkurs. Erbakan: "Wenn wir nicht wären, wäre es um vieles unruhiger in Kreuzberg oder Nippes." Er redet gern von der Integration in die deutsche Gesellschaft "mit Kopftuch und Koran".

Doch intern ist von Integration weniger die Rede. Jugendforscher Heitmeyer beobachtet, " dass Milli Görüs türkische Jugendliche gegen die westliche Gesellschaft hetzt und sie gleichzeitig an sich bindet". Massiv antiwestliche und antisemitische Ausfälle kennzeichnen zum Beispiel die Propagandazeitung "Milli Gazete". Darin wurden die Juden eine "im heiligen Koran verfluchte Nation" genannt; und man findet Sätze wie: "AMGT ist ein Schild, das unsere Mitbürger vor der Assimilierung im barbarischen Europa schützt." Befehle aus der Türkei AMGT (Vereinigung der nationalen Sichtweise in Europa) ist der frühere Name der Milli-Görüs-Bewegung, die darum kämpft, das weltliche Staatssystem der Türkei durch ein islamisches zu ersetzen.

Offenbar nicht nur in der Türkei: Ihr Wappen zeigt einen Halbmond, der Westeuropa umgreift. Weil das türkische Parteiengesetz Auslandsorganisationen verbietet, beteuert Mehmet Erbakan, dass es "keine organisatorische Verbindungen zur Refah-Partei gibt". Doch Insider Ali Mohammad erklärt: "Es kommen direkte Befehle von Necmettin Erbakan aus der Türkei - bis hin zu detaillierten Absprachen über den Kauf von Immobilien."

Die AMGT spaltete sich 1995 in zwei Vereine auf, wird aber weiter zentral geleitet und ist straff hierarchisch organisiert." Demokratisch ist da gar nichts - es gibt keine Wahl, keine Diskussionen, keine Gegenkandidaten", sagt Ali Mohammad, "wer gegen sie ist, wird als Feind des Islam denunziert." Die Bewegung kontrolliert inzwischen 450 von 1 000 Moscheen in Deutschland, dazu rund 1 270 Vereine; und sie übt in fast allen wichtigen islamischen Gruppen erheblichen Einfluss aus. Wenige Funktionäre dirigieren die je nach Angabe 26 000 (Verfassungsschutz) oder 70 000 Mitglieder (Erbakan). Neben Mehmet Erbakan steht im inneren Zirkel der Macht der 41jährige Hasan Özdogan. Özdogan gibt sich liberal und fungiert als Vorsitzender des Milli-Görüs-nahen "Islamrats für Deutschland".

Eigentlicher Chef in Deutschland ist der orthodoxe türkische Theologe Ali Yüksel (47). Sie alle haben Grund, selbstbewusst zu sein." Das Umfeld dehnt sich rapide aus", erläutert der Hamburger Orientalist Udo Steinbach. Bei der letzten Zählung im Mai kamen über 161 000 Männer zum Freitagsgebet in die Milli-Görüs-Moscheen. Steinbach findet das "alarmierend", mahnt aber wie fast alle Experten, die Erbakan-Anhänger nicht in die Isolation zu treiben: "Man darf auf keinen Fall Öl ins Feuer gießen - noch sind sie nicht gewalttätig."

Für den enttäuschten Mitarbeiter Ali Mohammad sind alle sozialen Angebote "nur vorgeschoben"; in Wirklichkeit gehe es Erbakan & Co. vor allem "ums Geld". Die Fundamentalisten finanzieren sich hauptsächlich durch Beiträge und Spenden. Allein die freitäglichen Kollekten bringen Millionen ein; ein paar Prozente fließen stets in die Kölner Zentrale. Mohammad hat Kenntnis von "schwarzen Kassen" und bezeugt: "Ich weiß, dass Spendengelder zweckentfremdet ausgegeben wurden, zum Beispiel um eine kommerzielle Firma zu gründen." Immer wieder, so der Insider, werde auch Geld an die Refah-Partei überwiesen." Da kommen direkte Anweisungen von Necmettin Erbakan. Einmal bestellte Erbakan fünf Mercedes; die haben wir dann besorgt und in die Türkei gebracht." 60 bis 70 Millionen Mark sollen für den letzten Refah-Wahlkampf aus Deutschland gekommen sein. Mehmet Erbakan spricht von einem "Jahresbudget" von 300 Millionen Mark für 1994 und fügt hinzu: "Alle zwei Jahre verdoppelt sich das." Von diesen gewaltigen Einnahmen hätten die Finanzämter, vermutet Mitarbeiter Mohammad, "nicht die geringste Ahnung".

Doch es fließen nicht nur Gelder aus Spendensammlungen. Die Milli-Görüs-Funktionäre unterhalten in Deutschland, Belgien, Holland und der Türkei zahlreiche Wirtschaftsunternehmen, darunter Handels- und Baufirmen, Lebensmittelgeschäfte, Versicherungen, Friseursalons und Reisebüros." Wir besitzen sogar eine Fluggesellschaft", erzählt Mehmet Erbakan voller Stolz. Einige Firmen, so Ali Mohammad, seien nur dafür da, "Gelder zu waschen" - aus den Spendensammlungen. Der Berliner Zeitung liegt eine Liste mit 127 Immobilien vor, die Milli Görüs schon 1993 in Europa besaß; Wert allein in Deutschland etwa 100 Millionen Mark. Wie Mohammad erläutert, hätten Erbakan und Yüksel die meisten Immobilien jedoch "hoch belastet", um ihre Geschäfte und den teuren Lebensstil zu finanzieren." Alle hohen Funktionäre haben dicke Autos und kostspielige Einfamilienhäuser", sagt der Insider. Yüksel besitzt ein Haus in Wuppertal und fährt einen teuren BMW, obwohl er offiziell nur 3 800 Mark verdient und drei Frauen unterhalten muss."Durch eine Heirat oder die Beteiligung an einer der Firmen werden die 200 Bezirksleiter von Milli Görüs fest an die Organisation gebunden", erläutert Mohammad.

Mitglieder in der CDU

Der wachsende Einfluss der Milli-Görüs-Funktionäre auf die in Deutschland lebenden Türken beunruhigt mittlerweile nicht nur den Verfassungsschutz, sondern auch die CDU. In keiner anderen deutschen Partei sammeln sich so viele türkische Islam-Fundamentalisten. Der 26jährige Milli-Görüs-Mann Erdan Taskiran war bis vor kurzem Vertreter der CDU im Ausländerbeirat von Berlin-Kreuzberg. Als seine Nähe zu den Extremisten publik wurde, trat er sofort aus der Union aus. Mehmet Erbakan kann das nicht verstehen." Wir haben mehrere Dutzend Mitglieder, die in der CDU sind", sagt er, "und wir propagieren auch weiterhin, dass sie sich dort engagieren." [2]



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